“Ich bin mir selber fremd geworden”
„Ich bin mir selber fremd geworden“ beschäftigt sich mit der Aufarbeitung eines Kapitels DDR-Geschichte - die des Frauengefängnisses Hoheneck aufgrund dort verfasster Briefe und wird von zwei Leipziger Freien Ensembles realisiert: Neue Kammer (Ensemble für Alte und zeitgenössische Musik) sowie Schatz und Schande (Musiktheaterkollektiv).
Es ist nicht nur das Projekt selbst, es sind gerade auch die Zeitzeuginnen, mit denen wir - nach der musikalisch-szenischen Aufführung – ein Gespräch in der Moderation von Ariane Zabel führen.
Karin Sorger und ihre Tochter Natalie Wöhrle-Sorger sind am Sonntag in der Gedenkstätte Bautzner Strasse zu Gast.
Für viele, die in der DDR politisch verfolgt wurden, ist das Teilen ihrer Erfahrungen eine enorme Herausforderung. Es fällt Betroffenen oft schwer, das erlittene Leid, die Schmerzen und Ängste erneut zu durchleben – besonders, weil die Erinnerungen über Jahrzehnte verdrängt und verschwiegen werden mussten.
Doch Gespräche mit Zeitzeug:innen sind für die Nachgeborenen von unschätzbarem Wert. Sie ermöglichen es, die Geschichte nicht nur als abstrakte Tatsache zu verstehen, sondern als gelebte Erfahrung, die fortwirkt. Diese prägt das Leben der Betroffenen weit über das Ende der SED-Diktatur hinaus. Die psychischen und physischen Auswirkungen von Verfolgungserfahrungen sind zwar noch bei Weitem nicht vollständig erforscht, aber unbestreitbar.
Erinnerungskultur ist demnach nicht nur eine Frage des Mitgefühls, sondern auch der moralischen Rehabilitierung. Wer das Leid der Betroffenen hört und anerkennt, hilft dabei, Trauma zu heilen. Aufarbeitung kann und darf nicht nur individuell geschehen, sondern muss gesamtgesellschaftlich erfolgen, um Vorurteile und Stigmata aufzulösen. Nur durch Empathie, Respekt und Geduld kann für Betroffene Resonanz erzeugt und Verständnis erwirkt werden.
Wie kann Erinnerungsarbeit geleistet werden? Gedenkstätten zum Beispiel wenden sich vor allem an den Verstand. Sie ermöglichen es, das historische Geschehen durch die Kombination der haptischen Überreste des authentischen Orts mit der musealen Vermittlungsarbeit faktisch zu begreifen. Um Emotionen anzurühren, bedarf es künstlerischer Aufbereitung. Das können wiederum Denkmale wie Stolpersteine leisten, die Vergangenheit als abstrakte Erinnerungszeichen an beliebiger Stelle in den gegenwärtigen Alltag rufen und so die rationale Erkenntnis sinnlich erweitern und vertiefen.
Schatz & Schande und die Neue Kammer leisten mit ihrem performativen Konzert eine Symbiose dessen: Sie verbinden den Verstand mit der Emotion und rufen die Geschichte in die Gegenwart.
Denn Erinnerungskultur ist mehr als ein Akt des Gedenkens. Sie lebt von der Einsicht, dass Geschichte ein lebendiger Prozess ist. Es geht darum, das Unrecht der Vergangenheit zu benennen, die Werte der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu bewahren und uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln. Erinnern heißt, Verantwortung zu übernehmen und das Erbe der Vergangenheit als kluges Lehrstück wirksam für die Zukunft bewahren.
Das Projekt wurde unterstützt durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, das Kulturamt der Stadt Leipzig, das Zentrum für Kultur und Geschichte e.V. / Sehnsucht nach Freiheit und die Karin und Uwe Hollweg Stiftung.